Ist Fachkräftemangel eine Führungsschwäche?
Der erste Weg aus dem Fachkräftemangel scheint die Anwerbung zu sein. Wir alle kennen die mehr oder weniger kreativen Stellenanzeigen oder auch solche, die knallharte Anforderungen beschreiben. Beides führt in den seltensten Fällen zum nachhaltigen Erfolg. Warum ist das so und was können Führungskräfte tun?
Stellenanzeigen sind leicht zu realisieren: Man beauftragt eine SoMe-Agentur und investiert beispielsweise 15 T€ für eine wichtige Stellenwerbung. Das klingt relativ einfach und es ist wirklich der einfachste und angenehmste Weg für das Management im Mittelstand. Wie kommt es dazu? Der Führungsstab diskutiert über Möglichkeiten zur Behebung des Fachkräftemangels und kommt am Ende nach schwerem Ringen zum Schluss, man müsse verstärkt Stellenanzeigen platzieren. Und man sei bereit, dafür auch “richtig viel” Geld in die Hand zu nehmen, beispielsweise fünfzehntausend Euro. Geschafft! Endlich hat man einen Kraftakt geschaffen, um dem Problem entschlossen entgegenzutreten. In den nächsten Wochen beobachtet man voller Stolz, in wie vielen Medien die Stellenanzeigen erscheinen. Diese bedeuten auch immer Werbung für ein Unternehmen, weil diese auch Ausdruck von Wachstum und Potenz sind - bisher jedenfalls. Dann freut man sich gemeinsam über den Eingang einiger Bewerbungen, führt Gespräche über Gespräche, doch am Ende sind die wirkliche Wunschkandidaten selten dabei, denn Fachkräftemangel heißt meistens auch Branchenerfahrung und - wenn es auch nur selten ausgesprochen wird - die Erwartung einer gewissen Jugend! Alt ist man schließlich bald selbst. Nach einer gewissen Zeit folgt eine weitere Krisensitzung zum Thema und man rechtfertigt sich gegenseitig, dass man ja wirklich “alles” Menschenmögliche versucht habe, und man habe auch viel investiert, doch am Ende liegt es wahrscheinlich an äußeren Umständen und selten an einem selbst. Kommt Ihnen dieses Muster bekannt vor?
Gleichzeitig muss ein Augenmerk darauf gerichtet werden, dass Mitarbeitende dem Unternehmen auch erhalten bleiben, also um Bindung. Auch setzt das Management nach den Erkenntnissen des Erasmus-Instituts primär auf sogenannte Benefits -wie beispielsweise Firmen-E-Bikes- und weniger auf strukturelle und damit nachhaltige Änderungen. Das erhöht möglicherweise die Abwerbechancen des Wettbewerbs.
Bei der Anwerbung geht es meistens um Rechtfertigung und den Anschein, beherzt durchgegriffen zu haben, getrieben vom Wunsch nach schnellem Erfolg. Das Management möchte zeigen, dass man die Ärmel hochkrempeln kann, dass man zupacken kann, wenn es darauf ankommt. Das Recruiting ist ein herrliches Instrument zur Selbstdarstellung, eine wunderbare Plattform für Meetings, Gespräche und ernste Gesichter. Schließlich gehen diejenigen, die darüber entscheiden, in einigen Jahren in den Ruhestand und in
Altersteilzeit, wie viele demographische Studien beweisen. Kurzum: Es fehlt in vielen Fällen die Motivation, das Unternehmen nachhaltig umzugestalten, um den Fachkräftebedarf zu sichern.
Sicherlich haben Sie sich auch schon mal gefragt, warum sehr gute Fachkräfte für NGO´s arbeiten? Oder warum hochkarätige Software-Architekten in kleinen Unternehmen arbeiten oder auch andersherum: In kleinen Abteilungen von Versicherungen herumdümpeln? Auf diese Fragen gibt es zwei Antworten. Zum einen geht es um Werteorientierung und demzufolge auch um werteorientierte Führung. Der andere Aspekt ist die Kompetenzorientierung. Das Management der Zukunft steht für werte- und kompetenzorientierte Führung. Wir können das tief im Menschen verankerte Verhalten nicht ändern, sein Handeln aber schon! Was mancherorts fälschlicherweise als “Mindset” bezeichnet wird, ist in Wahrheit, die erfolgreiche Übung, in bestimmten Situationen kompetent und auf Basis der gemeinsamen Werte zu handeln. Es ist als eine Handlungsbereitschaft. Und genau diese kann zielgerichtet und strukturiert entwickelt werden. Interessierte und Mitarbeitende spüren sehr schnell, ob ein Unternehmen konsequent nach gemeinsamen Werten handelt oder nicht. Denn Werte geben Sicherheit. Und die ist wichtig! Wenn Stellenanzeigen ökologische Verantwortung bewerben, sich aber nicht daranhalten oder wenn Menschenrechte zwar auf den Hochglanzbroschüren prangen, aber im Unternehmen nicht konsequent geachtet werden, geht das langfristig schief. Ich empfehle, beispielsweise die siebzehn UN-Nachhaltigkeitskriterien als Prüfschablone auf jeder Unternehmensentscheidung zu legen, um gemeinschaftliche Prinzipien und Werte offenzulegen.
Nicht jeder Mitarbeitende will ständig gefordert werden, im Rampenlicht stehen oder in Krisenstäben arbeiten. Andere blühen erst dann richtig auf. Die Zusammenstellung der Teams nach Kompetenzkriterien auf Basis gemeinsamer Werte wird ein wesentlicher Teil der Führung. Nehmen wir unser beliebtes Beispielteam “Bankraub”. Man braucht ein gemeinsames Ziel, auf dessen Basis die gemeinsamen Werte und Prinzipien entwickelt werden.
1) Gemeinsames Ziel: Eine Bank ausrauben und nicht erwischt werden
2) Gemeinsame Werte/ Prinzipien (kleine Auswahl)::
Körperliche Fitness, Abstinenz, gegenseitige Anerkennung, Respekt und Hilfsbereitschaft …
3) Kompetenzprofile (Auszug):
Rolle | Aufgabe/Kompetenz |
---|---|
Fahrer des Fluchtwagens | Sehr guter Fahrer, exzellenter Orientierungssinn, erfahrener Techniker, Bereitschaft für schnelle Entscheidungen, selbstorganisierend handelnd |
Bank Team (Gehen rein und holen das Geld) | Selbstbewusstes Handeln, klare Stimme, gute Ortskenntnis, exzellente Schützen, psychologisch gewandt, Bereitschaft zur Improvisation |
Hehler | Diskret, gut vernetzt, sehr rational handelnd, technisch topfit, verantwortungsvoll handelnd |
Organisator (Führungskraft, Manager) | Kompetenz- und werteorientiertes Führen, gutes Einfühlungsvermögen, Organisationstalent, sehr gutes Risikomanagement, agiles Projektmanagement |
IT/ Technik-Spezialist | Hervorragende IT-Kenntnisse, Improvisationstalent, Gründlichkeit vor Schnelligkeit, Diskret |
Götz Piwinger 2022
Anhand dieses stark vereinfachten Beispiels wird klar, dass die Kompetenzen auf Basis gemeinsamer Werte vor dem Hintergrund klar definierter Ziele aufgebaut werden können. Kompetenzen werden gerne mit Fachwissen verwechselt, es handelt sich aber um die Bereitschaft (nicht die Fähigkeit), in bestimmten Situationen auf Basis gemeinsamer Werte zu handeln. Auch wenn in diesem Beispiel Kompetenzen und Werte noch nicht sauber und messbar definiert sind, so wir doch klar, um was es geht. Alle Beteiligten teilen das Ziel und die Werte der Organisation und sind bereit, ihre Kompetenzen dafür einzusetzen. Der Organisator ist die Führungskraft und nimmt die Rolle des Ermöglichers (faciliator) ein.
Seine typische Führungsfrage lautet: “Was kann ich dazu beitragen, damit Du Dein Ziel besser erreichen kannst?”
Stellen Sie sich vor, Sie könnten die oben stehende Matrix transparent für Ihre eigene Organisation erstellen! Können sie das? Verfügen Sie über die entsprechenden Rituale und die passenden IT-Prozesse? Nur wenn alle Beteiligten die gemeinsamen Ziele und Werte nicht nur kennen, sondern durch Übung auch wirklich verinnerlicht haben, dann würden manchen sagen, hat sich das Mindset geändert, auch wenn dieser Begriff irreführend ist.
Dieser Zustand ist dynamisch, die Entwicklung von Ziele, Kompetenzen und Werten wird zur Personalentwicklung 4.0. Dies geschieht auf drei Ebenen:
Die gesamte Organisation,
die jeweiligen Teams,
die einzelnen Personen
haben eigene Werte und Kompetenzen, die von den jeweils übergeordneten mitbestimmt werden. Kommen wir nun zu einem durchgängigen IT-Prozess. Die Rituale der Werte- und Kompetenzentwicklung eignen sich hervorragend, um Übungsprojekte zur Verinnerlichung unter Zuhilfenahme einer veränderten IT umzusetzen. Denn Kompetenzen und Werte können nur durch emotionale Erfahrungen in praktischen Projekten entwickelt werden. Was eignet sich dazu besser, als ein Projekt mit der veränderten IT? Beispielsweise, indem ein Team bestimmte Lerninhalte für das LMS (Learning Management System) entwickelt. Dazu nutzt es zur Kommunikation eigene Wissensräume im KMS (Knowledge Management System) und erzeugt auf diese Weise ganz praktisch ein aktives Innovationsmanagement.
Wenn man konsequent und in einem überschaubaren Zeitraum digitalisieren möchte, kann man das Handeln der Menschen verändern, nicht aber das Verhalten.
Und was man auch tun kann: Alle IT-Prozesse miteinander verbinden, um einen klaren Workflow für alle Prozesse herzustellen. Denken Sie an Fluktuation und Fachkräftemangel. Das Produkt ist immer nur so gut wie sein Prozess!
Wer den Autor kennt, weiß: Methoden und Systeme müssen im Einklang stehen. So komplex das Thema Führung 4.0 erscheinen mag (ist es aber nicht), der wird spätestens beim Thema Systemkongruenz - der bruchfreien Durchgängigkeit von IT-Systemen- zusammenzucken.
Sich von liebgewonnenen Anwendungen zugunsten der konsequenten Durchgängigkeit zu trennen, erfordert Veränderungsbereitschaft. Nur, wenn die IT-Prozesse auch die Werte- und Kompetenzentwicklung im Arbeitsalltag abbilden können, wird es wirklich nachhaltig. Eine anspruchsvolle Führungsaufgabe! Ich stelle in unseren Projekten immer wieder fest, dass dieser Paradigmenwechsel oftmals stockt oder stehen bleibt. Die Umsetzung erfordert Erfahrung und Frustrationstoleranz (Neuerdings Resilienz).
Allen Beteiligten muss klar sein, dass zwei bis drei Jahre zur nachhaltigen Umsetzung völlig normal sind. Zur zielgerichteten Umsetzung empfiehlt sich der “NW-MAP”, der New Work Management Action Plan. Mit diesem agilen Planungs- und Prozesstool bleibt der Überblick und der erreichte Reifegrad jederzeit transparent.
Fazit:
Es wird zunehmend klar, dass wir dem Fachkräftemangel nur durch dauerhafte Investitionen im Äquivalent zu den Lohnkosten erfolgreich begegnen können. Diese Investition gehört zu den normalen Organisationskosten. Daraus wird durch Kompetenz- und Werte-Entwicklung in eine veränderte Unternehmenskultur gespeist und die IT-Prozesse gestrafft und zusammengeführt. Für die CFO´s:
Es handelt sich um eine permanente Effizienzoptimierung.
Kontakt:
Götz Piwinger
Honorarprofessor für Organisationsentwicklung, Learning & Development
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